Die Kämpfe des Ersten Weltkriegs im Orient haben sich in das kollektive Gedächtnis vor allem über die Figur und die Verfilmung des „Lawrence of Arabia“ eingetragen.
Der bildmächtige Breitwandfilm liefert die spektakulären, fürs Kino erfundenen Hintergrundbilder zum Kampf des Osmanischen Reiches gegen England, eine der vielen Fronten des Weltkrieges. Die echten Bilder des Vorderen Orients vor hundert Jahren, im Weltkrieg 1917, liegen in Filmstärke im Bayerischen Staatsarchiv: weit über 2500 fotografische Aufnahmen, schwarzweiß, auf Glasplatte und neuerdings in einem aufwändigen Verfahren digitalisiert. Geschaffen wurde dieser geografisch und historisch einzigartige Schatz von einer Schleißheimer Fliegertruppe. Das „Unternehmen Pascha“, vor hundert Jahren in Schleißheim mit gigantischem Aufwand gestartet, gehört zu den exotischsten Anekdoten des großen Krieges.
Die deutsche Heeresleitung hatte sich nach dem Kriegseintritt des Osmanischen Reichs 1915 entschieden, den Verbündeten an seinen Fronten gegen englische Truppen im Nahen Osten zu unterstützen. Die personelle und logistische Hilfe baute sich auf bis zur Formierung 1917 der „Heeresgruppe F – Jildirim“, das türkische Wort für „Blitz“. Wie an der Westfront in Europa, so wurden die kämpfenden Truppen auch an der Orient-Front von der neuesten Waffe des Krieges flankiert, der Aufklärung aus der Luft mit Flugzeugen. Schon 1916 wurde unter dem Arbeitstitel „Pascha“, angeblich nach dem damaligen General und Kriegsminister der Osmanen, eine Fliegerabteilung 300 mit zehn Piloten und sechs Beobachtern nach Palästina geschickt, in der unter anderem der bayerische Beobachtungsoffizier Fritz Berthold diente.
Durch die Waffenbrüderschaft mit dem Osmanischen Reich waren türkische Flieger und Flugschüler auch schon in Schleißheim zu Gast gewesen. Im Gästebuch der legendären Bedienung Anna in der Schlosswirtschaft, ein zeitgenössisches Dokument ganz besonderen Charakters, haben sich am 11. Februar 1916 unter der Überschrift „Die Türken in Schleißheim“ diverse Besucher aus dem Orient in arabischen Schriftzeichen zusammen mit ihren bayerischen Gastgebern verewigt.
1917 startete das Reich dann das „Unternehmen Pascha II“. Vier Fliegerabteilungen wurden für den Einsatz im Morgenland aufgestellt, die drei preußischen 301 bis 303 und die 304b, „b“ für „bayerisch“. Sammlung des bayerischen Kontingents war in Schleißheim, dem Zentrum der königlich-bayerischen Fliegertruppe. Unter Leitung des Hauptmanns Franz Walz aus Speyer, aus der damals bayerischen Pfalz, fronterfahren vor Verdun, und seines Stellvertreters, dem orient-erfahrenen Oberleutnant Fritz Berthold, sollten an die 250 Mann nach Palästina aufbrechen. Die Abteilung bestand aus 24 Offizieren, darunter gerade neun Piloten und sieben Beobachter, und 215 Mann, Flugzeugwarte, Meteorologen, Motorschlosser, Elektrotechniker, Schweißer, Spleißer, Tischler, Sattler, Lichtbildner, Waffenmeister und andere Spezialisten.
Alle bayerischen Flieger und Beobachter waren auch in Schleißheim ausgebildet worden. Die dortige Fliegerkompanie hatte nicht nur eine Flieger-, sondern als einzige in Bayern seit 1914 auch eine Beobachterschule, für die 1916/17 ein eigenes Gebäude westlich des Würmkanals beim Flugplatz errichtet wurde. In achtwöchentlichen Lehrgängen lernten die Offiziere, aus großer Höhe mit bloßem Auge Ziele und Motive zu erkennen und zu identifizieren, zu fotografieren sowie den Abwurf von Bomben und den Umgang mit Maschinengewehren an Bord. Dazu hatte die Technische Hochschule Breslau einen Flugsimulator gebaut, der seinerzeit mindestens im Deutschen Reich einzigartig war.
Am Bahnhof Schleißheim wurde das gesamte Material für die Expedition inclusive der zerlegten Flugzeuge auf die Eisenbahn verladen. Die Reichweiten und Geschwindigkeiten der Flugzeuge waren damals für Überführungsflüge viel zu gering. Und für die enorme Menge an weiterer Ausrüstung von Verpflegung über Waffen bis hin zum Material für die Erkundungsfotografien gab es ohnehin keine andere Transportoption. Allerdings war auch keine durchgängige Schienenverbindung von Schleißheim bis Palästina nutzbar. Aus dem Hauptquartier an der Front kam schon die ausdrückliche Warnung, dass es „der Bahntransport mit mehrmaligem Umladen, der Transport mit Kraftwagen und auf Kamelen erforderlich macht, die Packungen in ihren Abmessungen und ihrer Schwere genau zu überlegen. Für Kameltransport muss bedacht werden, dass zwei Lasten von je 75 Kilogramm die Höchstleistung für ein Kamel bilden“.
Neun zweisitzige Aufklärungsflugzeuge vom Typ „AEG C.IV“ und drei einsitzige Jagdflugzeuge „Albatros D.III“ wurden auf dem Flugplatz zerlegt und – mutmaßlich kamelgerecht – verpackt, dazu weitere geschätzte 300 Tonnen an Ausrüstung. Am Bahnhof Schleißheim wurde das Material auf drei Sonderzüge verladen, von denen jeder zehn bis zwölf Wägen alleine für Material und um die sieben Wägen für die Flugzeugteile führte. Die „Bayerischen Flugzeughistoriker“ haben diese spektakuläre Verladeaktion in einem Diorama im Maßstab 1:72 nachgebildet, das in der Ausstellung der Flugwerft Schleißheim zu sehen ist.
Mit einwöchiger Verspätung, weil Flugzeuge nicht rechtzeitig geliefert waren, startete das bayerische „Unternehmen Pascha“ am 25. August 1917. Über Salzburg, Budapest, Belgrad und Sofia erreichte der Tross Istanbul. Hier wurde auf Schiffen über den Bosporus gesetzt. Bei der weiteren Reise musste immer wieder umgeladen werden, weil zwischen Istanbul und Bagdad teilweise noch Schmalspurbahnen verkehrten – oder eben übergangsweise Lkw und Tragtiere genutzt werden mussten. Etwa acht Wochen nach der Abfahrt von Schleißheim kam der Tross in Arak el-Manschije an, einem mittlerweile nicht mehr existierenden Dorf nahe Gaza in heute von Israel besetzten Palästinensergebieten.
„Begeistert werden wir von den bereits mit dem Vorkommando hier eingetroffenen Kameraden begrüßt“, schrieb der Feldwebel Krehle nach Kriegsende in einem Erinnerungsbuch, „und gleich beim Morgengrauen wird mit dem Ausladen der Flugzeuge begonnen. Überall schaffen emsige Soldatenhände, um die Abteilung möglichst bald ihrem Zweck, der Frontverwendungsfähigkeit, zuzuführen. Transport auf Transport mit Gerät trifft ein; die Flugzeugwarte montieren die Maschinen auf und machen sie startbereit. Zweimal fährt ein Lastkraftwagen zu der ungefähr eine halbe Stunde entfernten Ortschaft, wo ein von einem Bohrkommando beaufsichtigter Brunnen Wasser liefert. Und endlich ist´s geschafft; jeder von uns legt für einen Augenblick Pickel und Spaten, Hammer und Schraubenzieher aus der Hand, als das erste startende Flugzeug, ein Kampfeinsitzer, über den sandigen Boden dahinsaust.“
Die eingesetzten Flugzeuge hatten bei einer Höchstgeschwindigkeit von 150 km/h eine Reichweite von etwa 560 Kilometern und eine maximale Flughöhe von 5500 Metern. Die Experten in Deutschland hatten vorab befürchtet, dass im Sommer die erhitzte Luft im Sinai zu dünn sei, um zu starten, was sich allerdings als unberechtigt erwies. Die Maschinen waren mit einem synchronisierten Maschinengewehr „MG 08-15“ berwaffnet, das durch den Propellerkreis schoss und einem weiteren MG, das auf einem Drehkranz vom Beobachter bedient werden konnte. Im Kriegsgeschehen der vergangenen drei Jahre hatte sich die Flugzeugtechnik mittlerweile auch so weit fortentwickelt, dass schon Bomben mitgeführt und abgeworfen werden konnten.
Vordringliche Aufgabe aber war die Luftaufklärung. Die Flugzeuge hatten jeweils zwei Kameras an Bord, standardmäßig mit Brennweiten von 31 bis 50 Zentimeter. Die Bilder der Abteilung 304b lassen zunächst Kameras mit 21 Zentimeter Brennweite erkennen und gelegentlich auch Modelle mit 25 und 50 Zentimetern. Ab März 1918 wurde eine Reihenbildkamera eingesetzt, der automatisiert überlappende Bilder von größeren Flächen schoss. Belichtet wurden die Bilder auf Glasplatten im Format 13 x 18 Zentimeter. Mit dem gelernten Fotografen Max Schreiner stand der Abteilung hier ein Fachmann zu Diensten.
Ein Pilot flog den Zweisitzer, der Beobachter fotografierte mit der Kamera in der Hand von oben. Entdeckte ein Aufklärungsflugzeug auf seiner Tour ein lohnendes Ziel, etwa einen feindlichen Truppentransport auf der Schiene, wurden vom Beobachter auch Bomben abgeworfen oder mit dem Maschinengewehr geschossen. Die Flugzeuge, die in „Lawrence of Arabia“ die arabischen Kämpfer des Titelhelden beschießen, könnten Maschinen der Fliegerabteilung 304b aus Schleißheim gewesen sein.
Nach wechselndem Frontverlauf auf den Standort ‚Afule (heute Afula) südlich von Nazareth zurückgezogen, war das erste Sondierungsgebiet der Schleißheimer Truppe der Raum um Bethlehem bis zum Toten Meer. Die erste erhaltene datierte Aufnahme stammt vom 22. November 1917, alle vorher eventuell geschaffenen Bilder gingen in den Rückzügen und Neuaufbauten verloren. Im April 1918 sprach der Fliegerkommandeur der Orient-Armee der Abteilung 304 die besondere Anerkennung für ihr tausendstes Lichtbild von der Palästinafront aus. Hauptmann Walz wurde im August von Kaiser Wilhelm II. der Orden „pour le Mérite“ verliehen.
Militärischer Zweck der Fotos war die Feindaufklärung und die Anfertigung von Landkarten oder die Ergänzung zum bestehenden dünnen Kartenmaterial. Orte, Eisenbahnen, Straßen und das Gelände wurden aufgenommen, das die Artillerie zu beschießen plante oder in dem künftige Kampfhandlungen stattfanden. Als Nebeneffekt freilich ist auf den Fotos fast alles zu erkennen, was sich zufällig in der Flugroute befand: Beduinenkarawanen, Kirchen, Ruinen oder eben heute ein kultuhistorisch und geografisch einzigartiger Überblick über das Leben in Palästina vor 100 Jahren. Gerd M. Schulz schreibt in einem Beitrag zu den „Blättern zur Geschichte der Deutschen Luft- und Raumfahrt“, dass die Schleißheimer 304b „mit ihrer Tätigkeit de facto die Luftbildarchäologie begründet habe“. So konnten Umrisse der Ruinen von Kreuzfahrerburgen identifiziert und damit lokalisiert werden. „Eher zufällig erscheinen auch einige der erst wenige Jahre existierenden jüdischen Kolonien über das Land verteilt, deren Bedeutung man damals noch nicht erahnen konnte“, hat das Bayerische Staatsarchiv in seiner Auswertung angemerkt.
Schon während der militärischen Mission wurde den Piloten wohl der zivile Effekt ihrer Arbeit klar. Das Deutsche Archäologische Institut bat darum, spezielle Bilder von archäologischen Fundstellen zu schießen. Und immer zielgerichteter steuerten die Flieger die Orte aus der Heiligen Schrift an. Die über 2500 Motive verteilen sich auf das heutige Syrien, Israel inklusive der Palästinensergebiete und Ägypten. Dazu wurden auf sicherem Terrain auch Bodenaufnahmen gemacht, etwa in Jerusalem oder am See Genezareth.
Einen dieser hunderten Aufklärungsflüge zur Eisenbahnstrecke von Ramleh über Gaza nach Süden schilderte im Erinnerungsbuch der „Bayerischen Flieger im Weltkrieg“ der Reserveleutnant Heußenstamm: „Mond und Sterne leuchten noch in südlicher Pracht. Startbereit steht unser Flugzeug vor dem Spitzzelt. Hauptmann Walz prüft kurz Motor und Steuer und schon rollt das Flugzeug über den trockenen, von der Hitze vielfach zerrissenen Boden und erhebt sich in die kühle Morgenluft. Ein prachtvoller Sonnenaufgang verdrängt die letzten Schatten der Dämmerung, und unter uns liegen, wie mit rotem Gold überschüttet, die Stätten der Heiligen Schrift mit ihrem uralten, geschichtlich bedeutungsvollen Boden. Alles aber überflutet das heiße Licht der zu voller Kraft erwachten Sonne. Wie immer bei unseren Fernaufklärungsflügen, wird der Anflug über das Meer gewählt. Es ist ein unvergeßlicher Eindruck und ein erhabenes Gefühl, in großer Höhe über dem von breiten, goldgelben Sanddünen gesäumten, in satten Farben leuchtenden, südlichen Meer zu schweben.“
In dem dreieinhalbstündigen Flug verfolgt der Flieger zwei englische Transportzüge und bombardiert einen davon, fliegt zunächst in 4000 Metern Höhe, dann nach einem Sturzflug zehn Meter über dem Wüstenboden und schießt schließlich noch Dutzende Bilder von Birseba, Daharije, Hebron und Bethlehem. Ungeachtet der nachträglichen Landserromantik und der Idylle der Bilder hat sich das gesamte „Unternehmen Pascha II“ schließlich doch im Weltkrieg abgespielt. Die Abteilung 304 beklagte zahlreiche Gefallene und Todesopfer durch Krankheiten. In Jerusalem und Nazareth liegen auf Friedhöfen Angehörige der bayerischen Fliegertruppe. Ohnehin schwer gefordert durch die ungewohnten drastischen klimatischen Bedingungen, war die Versorgung der Truppe über völlig untaugliche Nachschublinien mühsam und lückenhaft. Wie angesichts dieser Defizite, die wohl zuallererst auch Mangel an Fotomaterial bedingten, überhaupt noch Fotografien gemacht, entwickelt und gelagert werden konnten, ist erstaunlich.
Das letzte Foto der Abteilung 304b datiert vom 15. September. Die Engländer griffen die osmanisch-deutschen Stellungen an, der Flugplatz ‚Afule wurde überstürzt geräumt, Hauptmann Walz geriet in Gefangenschaft. Bei einer Sammlung auf dem Rückzug zählte die Abteilung noch sechs Offiziere, 20 Unteroffiziere und 93 Mann. Drei Flugzeuge aus ‚Afule und die Kriegskasse waren an den Feind verloren.
Am 30. Oktober 1918 schlossen die Osmanen Waffenstillstand mit der Entente, der Krieg in Palästina war beendet. Gemäß der Friedensvereinbarungen wurden die Reste der bayerischen Fliegertruppe ab März 1919 in die Heimat verschifft, wo sie am 31. März in Wilhelmshaven anlangten und dann in Fürth die Abteilung aufgelöst wurde.
Das wahrhafte Wunder an der bizarren Episode aber ist es, dass sich durch zwei Jahre an der Front, durch Kämpfe und Rückzüge, durch Gefangenschaft und die langen Reisen, in widrigstem Klima und unter meist untauglichen Verhältnissen die hoch empfindlichen belichteten Glasplatten mit den Fotografien erhalten haben! Schon gleich nach der Rückkehr gerieten Bilder von den Pyramiden von Gizeh in Umlauf, die als erste in Europa zu sehenden Luftaufnahmen dieser Wunderwerke so unfassbar schienen, dass sie für Fälschungen gehalten wurden.
Auch in der anschließenden Archivierung half der bayerischen Palästina-Sammlung der Zufall weiter, dass die Bilder beim übereilten Rückzug wohl noch bei den Fliegern gelagert waren und nicht in der Bildabteilung des Führungsstabs, wo sie hingehört hätten. Dessen Archive im Reichsarchiv in Potsdam mit dem fotografischen Ertrag der drei preußischen Abteilungen gingen in den Wirren des Zweiten Weltkriegs unter. In München sollen zunächst an die 4000 Bildplatten angekommen sein, wobei eine erste Registrierung 1920 nur an die 3000 auflistet. Ob hier zunächst falsch geschätzt wurde oder Bilder verloren gingen, ist unbekannt.
Schon 1921 wurden die Bildschätze beim Deutschen Geographentag in Leipzig vorgestellt. In den folgenden Jahren publizierte der Theologe und Palästinakundler Gustaf Dalmann zusammen mit Otto Freiherr von Waldenfels, dem Leiter des Bildarchivs im Kriegsarchiv, den Bildband „Hundert deutsche Fliegerbilder aus Palästina“. Auch die Bombenschäden in München im Zweiten Weltkrieg überstand die Sammlung unbeschadet. Martin Riemensperger und Michael Unger bilanzen in der „Archivalischen Zeitschrift“ der Staatlichen Archive Bayerns, dass sich „von keiner der 269 deutschen Fliegerformationen des Ersten Weltkriegs Archivgut in vergleichbarem Umfang erhalten“ habe.
Ab 1990 war es technisch möglich, von den Bildern Negative anzufertigen, ohne die empfindlichen Glasplatten durch Druck zu beschädigen. Israelische Universitäten hatten sich seit jeher um die Bilder bemüht. Mit den Möglichkeiten der Digitaltechnik entwickelte sich dann ab 2008 ein Gemeinschaftsprojekt des bayerischen Archivs mit dem Landesamt für Vermessung und Geoinformation sowie dem „Survey of Isreal“, einer Einrichtung des dortigen Bauministeriums. Die kopierten Negative wurden in aufwändigen Verfahren eingescannt, lokalisiert und online zugänglich gemacht. 2478 Luft- und 416 Bodenaufnahmen der Schleißheimer Truppe sind nun auf www.gda.bayern.de zu sehen, für 2009 sind die Geodaten hinterlegt.