„Die ältere Bienendame, die der kleinen Maja behilflich war, als sie zum Leben erwachte und aus ihrer Zelle schlüpfte, hieß Kassandra (…). Während die erfahrene Kassandra der jungen Maja, deren Erlebnisse ich erzählen werde, die großen blanken Augen trocknete und ihr die zarten Flügel etwas in Ordnung zu bringen suchte, brummte der große Bienenstock bedrohlich, und die kleine Maja fand es sehr warm und sagte es ihrer Begleiterin.“
Das war die Geburt der Biene Maja 1912. Sie trat einen sofortigen Siegeszug in der deutschsprachigen Welt an, flog wenig später bis auf die Filmleinwand und blieb dann Jahrzehnte Gast in vielen Kinderzimmern.
Ihre zweite Geburt geschah 1975, als das japanische Trickstudio „Zuiyo Enterprise“ auf Anstoss des ZDF die Anime-Serie „Die Biene Maja“ produzierte. Die 52 Folgen der Serie wurden ab 1. April 1975 in Japan und ab 13. September 1976 in Deutschland ausgestrahlt und in der Folge in Dutzenden Ländern weltweit.
Es folgten weitere Staffeln und ab 2013 eine Neuauflage in animiertem 3-D-Format, 2014 ein Kinofilm in gleicher Technik, dazu gibt es seit 1976 eine Comic-Serie, Theaterstücke, ein Musical , ein „Maja-Land“ als Freizeitpark und unzählige Merchandise-Artikel wie Figuren oder Spiele; 2020 erschien die Biene Maja auf einer Briefmarke der Deutschen Post. Maja ist die berühmteste Biene der Welt.
„In einem unbekannten Land / Vor gar nicht allzu langer Zeit / War eine Biene sehr bekannt / Von der sprach alles weit und breit“ – so begann der deutsche Titelsong zur 76er Zeichentrickserie, intoniert von Karel Gott, ein Ohrwurm für Generationen; doch korrekt ist der Text nur für die späteren Filmversionen. Die Original-Maja erlebt ihre Abenteuer in einem gar nicht „unbekannten Land“, sondern explizit im Schleißheimer Schlosspark.
Bei ihrem ersten Ausflug aus dem Stock freut sie sich über „ein Leuchten von Gold und Grün, so über alles reich und warm und strahlend, daß sie vor Seligkeit nicht wußte, was sie tun oder sagen sollte.“ Und ihre Begleiterin, eine erfahrenere Honigbiene, gibt ihr den Hinweis: „Das sind die Linden, auf die wir zufliegen, unsere Schloßlinden.“
Den Schleißheimer Schlosspark sah Waldemar Bonsels, der Autor des Romans „Die Biene Maja und ihre Abenteuer“, seit Sommer 1910 beim Blick aus seinem Fenster aus nächster Nähe; unmittelbar vor seinem Wohnsitz ist die Schlossgärtnerei. Bienen aus den real dort gehaltenen Bienenstöcken könnten ihm über gerade mal eine Wegesbreite Distanz ins Zimmer gebrummt sein.
Waldemar Bonsels, 1880 in Ahrensburg (Holstein) nahe Hamburg geboren, verließ mit 17 die Schule ohne Abschluss, zog dann über Bielefeld, Karlsruhe, Basel und eine Missionsreise durch Indien 1904 nach München. In einer Zeit des künstlerischen Aufbruchs in der kulturellen Metropole Deutschlands gründete er mit Freunden den Verlag „E.W. Bonsels und Co“, in dem er ebenso publizierte wie sein Freund, der begüterte Diplomatensohn Bernd Isemann.
Schleißheim war für die Münchner Künstlerszene zu der Zeit ein populärer Ausflugsort; die Nähe zur Stadt, noch verkürzt durch die 1858 eröffnete Bahnlinie, die populären Biergärten mit dem weithin gerühmten Schleißheimer Bier aus eigener Brauerei und insbesondere die Gemäldegalerien im Schloss zogen Ausflügler in Scharen an.
Hans Brandenburg, einer der Kompagnons des Bonsels-Verlags, schrieb 1930 in einem Landschaftsbuch: „Schleißheim… das ist ein Name wie Sanssouci und Schönbrunn, der Name für eine stille Köstlichkeit vor den Toren einer Großstadt“.
Bonsels und Isemann gefiel es derart, dass sie sich in Schleißheim ansiedelten. Unmittelbar nördlich der Schlossmauern hatte sich um 1860 der Makler und Kunsthändler Wladimir von Swertschkoff eine Villa erbaut. Ein Atelierhäuschen in seinem üppigen Park stand gerade zum Verkauf.
Der Verlag kaufte es, vom Geld von Isemanns Eltern, die Familien Bonsels und Isemann zogen ein. Waldemar Bonsels war zu der Zeit bereits geschieden und Vater zweier Söhne, die bei der Mutter lebten. Nach Schleißheim zog er mit seiner Freundin Elise Ostermeyer und dem gemeinsamen Sohn Karl Hannah Nils. 1911 heiratete das Paar in Schleißheim und bekam 1912 einen weiteren Sohn Hans Günther.
Bonsels hatte im eigenen Verlag zwei Auseinandersetzungen mit seiner früheren Missionstätigkeit publiziert und zwei literarische Werke, dazu zwei weitere Bücher bei anderen Verlagen; allesamt wenig erfolgreich.
Wie es zur „Biene Maja“ kam, ist angesichts des späteren Erfolgs von Legenden umrankt. Bonsels kokettierte auf dem Höhepunkt seiner Popularität später damit, er habe es nur für den Hausgebrauch für seine Söhne geschrieben und es sei dann quasi gegen seinen Willen veröffentlicht worden.
Freund Isemann schreibt sich in seinem Nachruf zum Tode Bonsels‘ eine Hauptrolle zu. Er habe als Naturfreund und begeisterter Hobbygärtner damals einen Roman über die Ameisen „Nala und Re“ verfasst, aus dem er „Bonsels Kapitel über Kapitel vorlesen musste“. So habe der dann daraus seinen Impuls bezogen, selbst ein Tierbuch zu verfassen, „ganz anders geschrieben“, so Isemann, „amüsant und nicht gedanken- und gefühlsreich“.
Ein neutraler Zeuge, der gemeinsame Bekannte Alfred Günther, hat die Erinnerung hinterlassen, dass bei seinem Besuch in Schleißheim 1910 die beiden Freunde abwechselnd aus ihren Geschichten „Maja“ und „Nala und Re“ vorgelesen hätten.
Für eine vermenschlichte Darstellung von Insekten hatte es zeitgenössische Vorbilder gegeben, so waren vom englischen Autor Frank Stevens 1907 „Die Reise ins Bienenland“ erschienen und 1909 „Ausflüge ins Ameisenreich“. Zwischen der „Biene Maja“ und Stevens‘ „Bienenland“ gibt es diverse inhaltliche Parallelen, so dass es höchst wahrscheinlich ist, dass Bonsels das Buch kannte.
Nach eigener Aussage hat Bonsels das Manuskript „in einem Sommer“ verfasst, was dann wohl der Sommer 1910 in Schleißheim gewesen sein müsste. Im September 1912 erschien „Die Biene Maja und ihre Abenteuer. Ein Roman für Kinder“ beim Verlag Schuster & Löffler. Der Untertitel „Roman für Kinder“ entfiel nach der ersten Auflage.
Das Buch ging, wie man heute sagen würde, durch die Decke. In einer Liste der meisterverkauften Bücher in Deutschland zwischen 1915 und 1940, angeführt von den „Buddenbrooks“, liegt die „Biene Maja“ auf Platz 4. Unter anderem soll es am deutschen Kaiserhof beliebt gewesen sein.
Und im Ersten Weltkrieg soll es in den Feldbüchereien ausgelegen sein und habe dort mit seinen heiteren oder rührenden, zumindest aber harmlosen Naturepisoden für willkommene Abwechslung gesorgt. Von dort habe es, so Bonsels in seinen Erinnerungen, „von der Front den Weg zurück in die Heimat gefunden“.
Von den Nachgeborenen konnte der immense Erfolg des Buches nicht recht dechiffriert werden. Die „Biene Maja“ habe eine Vielzahl aktueller Strömungen ihrer Zeit antizipiert, lautet ein Erklärungsansatz, die Beschwörung einer Naturidylle, die Konfliktstellung zwischen aufkommendem Individualismus und der Hingabe an eine Glaubens- oder Volksgemeinschaft, und das alles in einer unaufdringlichen, „kleinen“ Form in einer Zeit größten Erbauungsbombasts.
Mit dem „Himmelsvolk“, mutmaßlich ebenfalls geschrieben in Schleißheim, zumindest aber inspiriert durch seine hier gewonnen Natureindrücke, legte Bonsels 1915 dem Bestseller eine Fortsetzung nach gleichem Strickmuster folgen. An den Erfolg der „Biene Maja“ konnte er jedoch nie wieder annähernd anknüpfen.
Vom Honorar für seinen Bestseller kaufte sich Bonsels ein Anwesen in Ambach am Starnberger See, wohin er 1918 ohne seine Ehefrau und die beiden Söhne zog. Das Haus in Schleißheim hatte er bereits 1912 in Richtung München verlassen, es ging dann ins Eigentum Isemanns über. Die Freundschaft der beiden Literaten zerbrach, Gründe sind nicht dokumentiert.
Im „Dritten Reich“ gehörte Bonsels weiter zu den literarischen Großverdienern. Regelmäßig produzierte er neue Romane, heute allesamt vergessen, seine Lesungen waren meist Publikumsrenner. Einige Werke erregten allerdings wegen erotischer Szenen Anstoss und wurden verboten. Wahrscheinlich als Reaktion auf diese Verbote verfasste er 1943 einen Roman mit ausdrücklicher Widmung an hohe nationalsozialistische Kader und demonstrativ antisemitischem Vorwort.
Die Thematisierung dieser Verstrickkung führte bei einer Tagung 2011 zu dem Urteil über Autor Bonsels als „Märchen-Dichter, der unpolitisch sein will, sich dann aber mit fliegenden Fahnen dem jeweiligen System andient, um sein Publikum zu behalten“.
1952 starb Waldemar Bonsels nach einer Lymphkrankheit, seine Urne wurde im Garten seines Hauses in Ambach beigesetzt. Bernd Isemann lebte bis zu seinem Tod 1967 in seinem Haus in Schleißheim. Seine literarischen Werke erreichten keine größere Aufmerksamkeit. „Nala und Re“ fanden erst 1920 einen Verlag, das Buch floppte aber.
Isemann schrieb in seinen Lebenserinnerungen, er müsse eingedenk der gemeinsamen Genese der beiden Werke „mit Belustigung, nicht mit Neid“ anerkennen, dass die Maja seine Ameisen „100.000mal überflügelt“ hätten. Dennoch sei „die ‚Biene Maja‘ noch jetzt ein mir unsympathisches Buch“. Es enthalte „genau die Schnoddrigkeit, die Bonsels aufweisen konnte“.
Nach einem großen Erfolg mit der Zeichentrick-Serie „Wickie und die starken Männer“ rief das ZDF eine Folge-Serie mit der Biene Maja ins Leben. Josef Göhlen, damaliger Leiter des Kinder- und Jugendprogramms des ZDF, entwickelte zusammen mit dem US-Zeichner Marty Murphy aus den Hanna-Barbera-Studios die Figuren.
Die populärsten Freunde Majas, der faule Willy und der Grashüpfer Flip, kommen im Roman nicht vor, sie sind Erfindungen für den Zeichentrick. Die Episoden aus dem Buch wurden teils übernommen und umgebaut, der Großteil aber neu erfunden.
Zum 100. Geburtstag des Buches 2012 widmete sich die Gemeinde Oberschleißheim in einer Grundlagenarbeit ihrer berühmtesten Tochter. Eine eigene Publikation stellte „Maja, die Biene aus Schleißheim“ und ihre Entstehung am Ort vor.
Eine mehrwöchige Ausstellung in einem Flügel des Alten Schlosses Schleißheim, vorbereitet von einer eigenen Arbeitsgruppe der Gemeinde, zeigte Dokumente und Bilder zur Entstehung des Romans.
„Und diese Biene, die ich meine, nennt sich Maja“, singt Karel Gott. Maja stellt sich im Roman formvollendet einer Mücke vor: „Ich stamme vom Volk der Bienen im Schloßpark“. Worauf die Mücke antwortet: „Das ist eine beneidenswerte Abstammung.“