Fliegergräber und ihre Geschichte

Beim Besuch des Schleißheimer Friedhofs in Hochmutting fallen sechs eng nebeneinander stehende Grabsteine mit englischsprachigen Beschriftungen auf. Es handelt sich um sechs Soldatengräber und alle hier Bestatteten sind am 21. Dezember 1942 ums Leben gekommen. Welche Schicksale verbergen sich hinter den Gräbern?

 

Die Geschichte beginnt auf dem Flugplatz Waddington in England, rund 200 Kilometer nördlich von London. Der Flugplatz Waddington wurde 1916 eröffnet und 1920 zunächst wieder geschlossen. Im Jahr 1934 erfolgte die Reaktivierung und seither wird er
durchgehend bis heute von der Royal Air Force genutzt.

 

Am Montag, den 21. Dezember 1942, starteten am späten Nachmittag 137 Flugzeuge zu einem nächtlichen Bombenangriff auf München. Die Route führte zunächst nach Süden. Nach Querung des Ärmelkanals wurde das europäische Festland bei Cayeux
(Frankreich) erreicht. Nach einer Linkskurve ging es auf gerader Strecke zum Starnberger See und von dort aus nach München. Das stark mit Flugabwehrgeschützen bestückte Ruhrgebiet wurde so vermieden. München lag schon an der Reichweitengrenze englischer Bomberverbände.

 

An- und Abfl ug waren lang und gefährlich. Begleitende Jagdflugzeuge mit so großer Reichweite waren 1942 noch nicht verfügbar. Einzig die Nacht bot einen eher dürftigen Schutz. Die deutsche Nachtjagd steckte damals allerdings noch in den Kinderschuhen. Als sogenannte „Hauptstadt der Bewegung“ war München aber ein wichtiges Ziel, das die Risiken aufwog.

 

Die Nacht vom 21. zum 22.12.1942 war im Raum München eine Vollmondnacht mit Bodennebel und einer dünnen Wolkenschicht in etwa 1700 Meter Höhe. Die sogenannten „Pfadfinder“ erreichten das Zielgebiet um 21:52 Uhr. Ihre Aufgabe war es, das Zielgebiet mit langsam zu Boden schwebenden Leuchtkörpern zu markieren und auch Sprengbomben zu werfen. Damit das Zielgebiet durchgehend markiert werden konnte, flogen sie in drei Wellen, erst neun, dann sechs, dann wieder neun Flugzeuge hintereinander und warfen 148 Leuchtkörper und 11.232 Kilogramm Bomben ab. Zielfindung und -markierung mit Funkpeilung und Radar war im Dezember 1942 noch nicht im Einsatz.

 

Den „Pfadfindern“ folgten in zwei Gruppen die eigentlichen Angreifer: Um 22:05 Uhr 75 Flugzeuge mit 2277 Kilogramm Bomben und um 22.09 Uhr weitere 24 Maschinen mit 2466 Kilogramm. Die ungewöhnlich erscheinenden Bombenlasten der „Pfadfinder“ und der eigentlichen Bomber erklären sich dadurch, dass zunächst Sprengbomben und später die leichteren Brandbomben abgeworfen werden.


Um 22.37 Uhr war der Angriff beendet und es ging auf direkten Weg zurück nach England. Zwölf Flugzeuge, neun Prozent des Einsatzgeschwaders, kehrten nicht mehr heim. Eines davon war ein viermotoriger Bomber vom Typ „Lancaster“ mit der Werknummer W4185 und der Kennung WS-G. Flugzeug und Besatzung gehörten zur No. 9th Squadron (Geschwader) der Royal Air Force.

 

Entgegen der Planungen war die Mehrzahl der Bomben dieses Angriffs auf offenes Land süd- und südwestlich von München gefallen. Dies deutet drauf hin, dass wohl in Folge einer Verwechslung der Zielanflug zu früh begonnen wurde, statt am Starnberger See  bereits am westlicher gelegenen Ammersee, und München so verfehlt wurde. Welche Ziele in Raum München genau auf dem Plan standen, ist nicht überliefert.

 

So ist auch nicht klar, ob Schleißheim in dieser Nacht geplant oder irrtümlich bombardiert wurde. Um 20:43 Uhr jedenfalls gab es Fliegeralarm in Schleißheim. Die Bomben fielen im Bereich vom Kirchplatz Maria Patrona Bavariae bis zum Bahnhof. Die Lage der Bombeneinschläge deutet darauf hin, dass nur ein Flugzeug seine Bomben hier abwarf. Im nordwestlichen Flugplatz-Bereich wurden
die Turnhalle und die Unterkunft der Luftwaffenhelferinnen getroffen und brannten vollständig nieder.

 

Im Ort wurde ein Haus total zerstört, an dessen Stelle heute das Gebäude der Kreissparkasse an der Ecke Hofkurat-Diehl-/Haselsberger Straße steht. Von dem gegenüber, auf der westlichen Seite der heutigen Haselsberger Straße stehenden Haus blieb nur das schwer beschädigte Erdgeschoss übrig, ebenso schwer beschädigt wurden das Pfarrhaus und die Kirche.

 

Als es um 22:50 Uhr Entwarnung gab, hatten sechs Oberschleißheimer Bürger ihr Leben verloren, Zenta und Simon Schuster, Rosa Simek, Johann Reicherl und Hans Brunnacker, dazu Josef Simek, 34, der gerade auf Fronturlaub zuhause war. Außerdem gab es 12 Verletzte. Die Zahl der getöteten und verletzten Luftwaffenangehörigen ist nicht überliefert. Die Luftwaffe hat dies nicht an die Gemeinde gemeldet, sondern kriegsbedingt nur intern behandelt. Die Akten, darunter auch das Kriegstagebuch der Flugplatzkommandantur aus dieser Zeit, sind aber seit 1945 verschollen. Im Jahr 1942 war es auch noch üblich, dass bei Unfällen und Luftangriffen im Reichsgebiet getötete Luftwaffenangehörige in den Heimatort überführt und dort beigesetzt wurden. Ein Zeitzeuge erinnert sich an mindestens eine getötete Luftwaffenhelferin.

 

Ob die abgeschossene Lancaster WS-G vielleicht jene Maschine war, die Schleißheim bombardiert hat, bleibt unklar. Die Maschine flog über der dünnen Wolkenschicht, als sie um 22:30 Uhr über der Rothschwaige von der deutschen Flugabwehr, 1. schwere
Flak-Abteilung 384 sowie 1. und 4. schwere Flak-Abteilung 405, getroffen wurde und brennend in der Luft auseinander brach. Die deutschen Geschütze waren über ein Feuerleitgerät, einen frühen mechanischen Computer, zentral ferngesteuert auf das Ziel ausgerichtet worden.

 

Zeitzeugen berichteten, die Wolken hätten damals „in Flammen gestanden“. Der Rumpf kam in der Nähe vom Obergrashof herunter, etwa dort, wo sich heute der Baggersee befindet. Ein Motor schlug der Überlieferung nach im Gut Obergrashof auf, nach anderen Erzählungen landeten die Motore im Bereich des Karlsfelder Sees. Da das Flugzeug vier Motore hatte, könnte beides richtig sein.

 

Im abgestürzten Rumpf befanden sich fünf Tote und ein Schwerverletzter, der Überlieferung nach der Pilot. Er wurde geborgen, starb aber noch in der gleichen Nacht im Fliegerhorst-Krankenhaus in Schleißheim. Ein Überlebender schaffte es zurück. Das siebte Besatzungsmitglied, der Bordmechaniker Sergeant Peter Myram Slater, geboren am 12.11.1921, überlebte den Absturz außerhalb des Flugzeugrumpfes leicht verletzt, war allerdings drei Tage bewusstlos. Ob er mit dem Fallschirm abgesprungen war, oder sich aus dem Wrack befreien konnte, ist nicht überliefert.

 

Er wurde von SS-Leuten des Konzentrationslagers Dachau aufgefunden, im dortigen Krankenhaus behandelt und später an die Luftwaffe übergeben. Den Rest des Krieges verbrachte er mit der Kennnummer 42678 im Kriegsgefangenenlager „Stalag Luft VI“ in
der Nähe von Heydekrug im heutigen Litauen. („Stalag“ ist die Abkürzung für Stamm-Lager und „Luft“ steht für Luftwaffe.) Im Zuge des sowjetischen Vormarsches wurde das „Stalag Luft VI“ im Juli 1944 aufgelöst und die Kriegsgefangenen auf andere Lager verteilt.

 

Die Mehrzahl kam in das „Stalag Luft IV“ in der Nähe von Tychow im heutigen Polen. Dieses Lager wurde im Februar 1945 evakuiert, wobei die Kriegsgefangenen zu Fuß in das „Stalag 11B“ bei Fallingbostel, Niedersachsen, verlegt wurden. In die Geschichte ging dies als „Death March“ (Todesmarsch) ein. Ob Peter Slater hier dabei war, oder ob er vorher bereits in ein anderes Lager verlegt wurde, ist nicht dokumentiert. Im Jahr 1946 kehrte er nach England zurück und hier verliert sich seine Spur zunächst.

 

Beginnend in den 1980er Jahren gab es mehrere Versuche, mit ihm in Kontakt zu treten, leider erfolglos. Die englischen Behörden haben sich auf den Datenschutz berufen. Da der Name „Peter M. Slater“ in Großbritannien sehr häufig ist, blieben alle Versuche, ihn auf anderen Wegen ausfindig zu machen, lange erfolglos. Erst 2022 gelang es, den abgekürzten zweiten Vornamen „M.“ in „Myram“ aufzulösen. Die weiteren Nachforschungen ergaben, dass er nach seiner Rückkehr 1946 geheiratet hatte und am 13. August 2015 verstorben ist.

 

Die sechs toten Besatzungsmitglieder wurden 1942 mit vollen militärischen Ehren im Beisein eines Schweizer Diplomaten, vermutlich der Konsul aus München, in Hochmutting beigesetzt. Die Lichtbildstelle der Fliegerhorst-Kommandantur hat dies ausführlich fotografisch dokumentiert. Im Jahr 1942 waren Begräbnisse dieser Art nicht ungewöhnlich, jedoch bei den NS-Machthabern nicht gerne gesehen. Diese starteten nach und nach eine immer radikaler werdende Hasskampagne gegen alliierte „Terrorflieger“. Im August 1943 gab Reichsinnenminister und zugleich Reichsführer SS, Heinrich Himmler, eine erste Weisung heraus, die abgeschossenen alliierten Fliegersoldaten den Schutz durch die Polizei versagte. Im April 1944 gab es durch den Chef des Reichssicherheitshauptamtes, Ernst Kaltenbrunner, die nächste Steigerung, indem der deutschen Bevölkerung Schutzhaft oder gar das Konzentrationslager angedroht wurde, wenn alliierte Flieger vor „Selbsthilfe der Bevölkerung“ geschützt würden. Mit „Selbsthilfe“ waren Lynchmorde gemeint. Schleißheim blieb, so viel bekannt ist, von solchen Exzessen verschont, dokumentiert ist jedoch ein
Fall ganz in der Nähe in Attenkirchen (Landkreis Freising).

 

Der Fotograf am Schleißheimer Fliegerhorst ging ebenfalls ein sehr großes Risiko ein, als er während des Luftangriffs und danach bei den Aufräumarbeiten Fotos anfertigte, da dies verboten war. Als Angehöriger der Flugplatz-Lichtbildstelle war es ihm jedoch möglich. In falsche Hände geraten, hätten ihn diese Bilder freilich vor ein Kriegsgericht bringen können. Die Negative hat er kurz vor Kriegsende 1945 vernichtet, aus Angst vor marodierenden deutschen Standgerichten, aber auch davor, dass ihm Bilder nach der Gefangennahme durch die Amerikaner Probleme bereiten könnten.

 

Dass die Bilder heute noch existieren, ist der Oberschleißheimerin Martha Schmid zu verdanken. Sie war damals am Flugplatz beschäftigt und wusste, dass der Flugplatz-Fotograf Abzüge der Bilder an einen guten Freund weitergegeben hatte. Auf Ihre Vermittlung konnten Reproduktionen angefertigt werden. Auch von der abgeschossenen Lancaster-Maschine wurden Fotos angefertigt, vermutlich privat von einem Angehörigen des am Flugplatz stationierten Bergekommandos. In diesem Fall ist es
aber nicht gelungen, die Bilder zwecks Reproduktion zu finden.

 

In Schleißheim blieb es im Kriegsverlauf nicht bei den sechs Gräbern am Friedhof Hochmutting. Bei Kriegsende waren
es mindestens 104 Gräber alliierter Fliegersoldaten. Sieben davon konnten bis heute nicht identifiziert werden. Auch die genaue Anzahl bleibt offen. Aus den Wracks abgestürzter Flugzeuge, deren Einzelteile oft weit verstreut aufgefunden wurden, konnten oft keine kompletten Körper mehr geborgen werden. Eine korrekte Zuordnung der Leichenteile war mit damaligen Mitteln nicht möglich.

 

Bis auf die sechs Besatzungsmitglieder der Lancaster WS-G wurde nach Kriegsende alle anderen Soldaten auf nationale
Kriegsgräberstätten umgebettet. Warum die sechs Gräber von 1942 aber in Hochmutting blieben, war viele Jahre lang unklar. Es gab viele Spekulationen und Vermutungen. Eher zufällig gab es im Zusammenhang mit den Nachforschungen zu der am 1. November 1945 auf dem Weg von Bovington nach Schleißheim abstürzten C-47 (siehe „Schleißheimer Winter“ 2021) den entscheidenden Hinweis.


In der Folge standen rund 600 Seiten digitalisierte Akten zur Verfügung, die das Rätsel schließlich lösten. Der Vater von Robert Guy Clarkson wollte, dass sein Sohn nicht umgebettet werde und zusammen mit seinen Kameraden an Ort und Stelle in Hochmutting begraben bliebe. Dieses Anliegen stieß jedoch auf den erbitterten Widerstand der kanadischen und englischen Militärbehörden.

 

Es gelang Clarkson Senior, die Angehörigen der anderen Besatzungsmitglieder ausfindig zu machen und diese anzuschreiben. Sie waren einhellig der Meinung, dass die Totenruhe nicht gestört werden dürfe und keine Umbettung stattfinden solle. Der Kampf mit den Behörden dauerte drei Jahre und erst 1948 war erreicht, dass keine Umbettung stattfand. Der Vater von Robert Guy Clarkson starb am 22.12.1949. Es hat dann noch bis 1956 gedauert, bis die Akten endgültig geschlossen wurden.

 

Außer den sechs Gräbern in Hochmutting gibt es weltweit nur noch vier weitere gefallene englische Soldaten, die nicht umgebettet wurden. Verfasser: Günter Braun